Wie ich einmal 3.000 Menschen mein Doppelkinn zeigte

Dieser Beitrag ist am 5. Juni 2021 auf zeit.de erschienen.

Ein moderner Mythos besagt: Auf TikTok kann jeder viral gehen. Ach echt? Ein Selbstversuch

Immer wieder klatsche ich mit der Hand auf die Selfiekamera meines Smartphones. Das macht man jetzt so, die Hand als Blende. Im Hintergrund dudelt ein Sound: BUMM, BUMM, BUMM, BUMM, BUMM, BUMMBUMMBUMMBUMM, dann sagt Frauentausch-Andreas: „Das bleibt alles so, wie’s hier ist.“

Ich brauche 24 Versuche, bis ich mit meiner Hand den richtigen Rhythmus treffe. Die Bassschläge werden schneller, meine Hand auch. Indem ich die Kameralinse immer wieder kurz verdecke, imitiere ich eine Art Blinzeln. Ein modernes Kuckuck-Spielchen. Zuschauerinnen des Videos sollen denken: „Jetzt passiert gleich etwas.“ Ein übliches Muster bei TikTok: Wenn der Betrachter schließlich klare Sicht bekommt, passiert eine große Verwandlung. In meinem Fall geschieht aber – nichts. Zusammen mit Andreas‘ Zitat, ist das witzig, weil … Ach, naja, eigentlich ist es am Ende gar nicht witzig. 

Das findet wohl auch die Community: Dieses Video sehen gerade mal 153 Menschen, elf klicken auf Like. Mein vorheriges Video haben 231 gesehen. Das nächste bekommt sieben Views. Ich versuche gerade, bei TikTok viral zu gehen – und scheitere kläglich.

Bei TikTok kann jedes Video ein Hit werden

Zwei Wochen zuvor habe ich in der Redaktionskonferenz diesen Selbstversuch vorgeschlagen. Jedes einzelne Video kann ein Hit werden – so könnte man das Versprechen von TikTok zusammenfassen. 

TikTok unterscheidet sich von anderen sozialen Netzwerken unter anderem in einem entscheidenden Detail: Besucher der App sehen im Startbildschirm nicht nur die Videos der Menschen, denen sie folgen, sondern eine Auswahl aller Inhalte auf der Plattform. Was man sieht, wenn man die App öffnet, entscheidet ein Algorithmus. TikTok selbst verspricht, dass weder die Anzahl der Follower noch die Zugriffszahlen bisheriger Videos Einfluss darauf haben, ob ein Video auf der sogenannten For-You-Page vieler Nutzerinnen und Nutzer auftaucht. Theoretisch bedeutet das: Jeder soll TikTok mit einem Clip erobern können, ohne den langwierigen Aufbau organischer Reichweite. Also auch ich.

Dafür muss ich aber erst einmal Videos posten. 

Weil meine Ideen ausbleiben – vier Tage lang –, versuche ich, was ich auch sonst mache, wenn ich keine Ahnung habe: Ich spreche mit Experten. Lisa Girard ist Consumer Communication Specialist bei TikTok. Ich bitte sie, mir den TikTok-Algorithmus zu erklären. 

Was dort landet, folgt drei Kriterien, erklärt mir Girard: Zum einen spielen Benutzerinteraktionen eine Rolle, also Kommentare und Likes. Zweitens geht es um Videoinformationen, sprich Bildunterschriften, Sounds und Hashtags. Das dritte Kriterium sind dann individuelle Konto- und Ländereinstellungen. Weil ich in Deutschland lebe, wird mir vor allem deutscher Content auf meine Startseite gespült. 

Masse oder Nische?

Wirklich weiter bringt mich das aber noch nicht. Mit welchem Content kann ich auf TikTok denn am besten punkten? „Du musst deine Nische finden“, sagt Girard. „Präsentier dich mit dem Thema, für das du Expertin bist.“ Expertin. Ich? Für was denn? Ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gebe, will ich wissen. „Doch, schon“, meint Girard. Dafür müsse ich einfach nur die aktuell stärksten Trends und Challenges bedienen. Aha. 

Besonders gefragt sind laut einem Trendreport in Deutschland gerade – wenig überraschend – die Themen Fashion, Beauty und Sport. Ich habe jetzt also zwei feste Anhaltspunkte, die mir zum richtigen Inhalt meiner Videos verhelfen sollen: Entweder ich finde meine Nische oder ich mache das genaue Gegenteil. 

Ich gehe meine Influencerqualitäten durch: Meine Augenbrauen sind selten on fleek und der Chanel-Lippenstift in meinem Badezimmer macht noch keine Beauty-Influencerin aus mir. Mit den immer gleichen weißen T-Shirts in meinem Kleiderschrank, die ich im Zehnerpack bestelle, kann ich mich auch schlecht als Modebloggerin qualifizieren. Und die Bundesliga? Spontan wüsste ich nicht einmal, wie viele Teams überhaupt um die deutsche Meisterschaft spielen. Die Trends kann ich nicht bedienen; ich bin nicht trendy. 

Also Nische. Was weiß ich, das nicht jeder weiß? Kann ich etwas, das nicht jeder kann? 

Alles so mittel

Ich stelle fest: Alles in meinem Leben kann ich irgendwie so halb gut. Ich kann so halb gut kochen, ich kann so halb gut tanzen, ich kann so halb gut singen. Nichts qualifiziert mich zu sagen: Schaut mich an und staunt! Schließlich kommt meine ältere Schwester mit einer Idee um die Ecke. „Du kannst doch Wein trinken“, sagt sie. Äh, wie bitte? Sie präzisiert: „Na ja, du kennst dich doch mit Wein aus. Stell doch verschiedene Weine vor. In der Pandemie wird das sicher gerne genommen.“ 

Sie hat recht. Zwar bin ich keine ausgebildete Sommelière, aber nach Jahren in der Gastronomie weiß ich vermutlich mehr über Tannine und Trübungen als viele andere in meinem Alter. Was ich außerdem kann, ist, mich selbst nicht so ernst zu nehmen. Humoristische Supermarktwein-Reviews – das ist meine Nische! 

Vom Gang in den Supermarkt bis zum zweiten Schluck Bordeaux (der war im Angebot, für 4,49 Euro) nehme ich die TikTok-Welt in meinem Video mit. Auf meinem Schreibtisch arrangiere ich die perfekte Kulisse, ordentlich aber stimmungsvoll. Für die Nahaufnahme poliere ich sogar den letzten Wasserfleck vom Weinglas wie sonst nur für vielversprechende Dates. Insgesamt sieben verschiedene Kameraeinstellungen drehe ich ab und schneide die Videoschnipsel auf die Millisekunde genau aufeinander zu. Ich fühle mich wie die Regisseurin meiner eigenen kleinen Rotwein-Romanze. Sogar für die Untertitel nehme ich mir richtig viel Zeit. Zugegeben, die muss ich mir auch nehmen, weil ich mein Video dreimal aus Versehen im digitalen Mülleimer von TikTok versenke. Aber am Ende spielt auf meinem Smartphone ein recht präsentabler Kurzclip ab und ich grinse stolz. Sogar mit Voiceover! Vor lauter Tatendrang mache ich direkt noch ein zweites Video. Das kann nur gut werden!    

Oder auch nicht. 

Denn als ich die ersten beiden Videos hochladen will, die ich aufgenommen habe, macht TikTok mir einen Strich durch die Rechnung. Nach weniger als zwei Sekunden werden meine Clips gesperrt. Der Grund: Sie verstoßen gegen den Jugendschutz. Ups. 

Erst ist es mir etwas peinlich, dass ich auf einer Plattform für Jugendliche mit Alkoholtipps punkten wollte. Andererseits: Auf meiner For-You-Page drehen sich ganz schön viele Videos um Partys und Alkoholkonsum. Und auch zwei junge Winzerinnen sind mir schon untergekommen. Ich verstehe die App nicht. Und stehe wieder am Anfang.

„Erst mal musst du deine Scham ablegen“

Bei der Suche nach Inspiration ist TikTok selbst keine Hilfe – sondern der Feind. Ich versumpfe auf der For-You-Page, Stunde um Stunde. Catfishing-Videos, in denen Nutzerinnen und Nutzer so viel Make-up verwenden, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen sind, faszinieren mich. Ich schaue mir an, wie Paare sich gegenseitig pranken, wie junge Menschen emotionale Szenen schauspielern. Wenn das so weitergeht, scheitere ich nicht nur mit meinem Experiment, ich kriege in meinem Leben auch sonst nichts mehr geregelt. Ich brauche noch mehr Unterstützung.

Adil Sbai ist Autor der TikTok-Bibel. Er gibt Tipps für Content Creator und Werberinnen und schreibt darüber, welchen Wert die Plattform TikTok für sie hat. Immerhin ist er auch der Manager von Younes Zarou, einem der größten TikToker Deutschlands. 

„Erst mal musst du deine Scham ablegen“, sagt Sbai. „Sobald du anfängst zu denken, dass Leute deinen Content vielleicht voll peinlich finden, hast du schon verloren.“ TikTok sei eine Spielwiese, meint er. Ein Abenteuerland, in dem – noch – fast alles möglich sei. Auch er rät mir zwar dazu, meine Nische zu finden. Wenn ich diese aber nun mal einfach nicht habe, solle ich einfach mal munter drauflos posten. Und: dranbleiben. Je aktiver ich bin, desto wahrscheinlicher werde mein Viralhit, sagt er. 

Irgendwann ist mir tatsächlich fast alles egal, vor allem meine Würde, und ich poste einfach super random irgendwelche Videos. Ich nehme ein Video zu feministischen Büchern auf, ich lipsynce zu Rap, ich nutze einen völlig dämlichen Clownsfilter, weil er gerade trendet und mache einen Scherz über unseren Innenminister in seinen jungen Jahren. Ich poste sogar ein Video dazu, wie ich mir selbst eine Maniküre mit Klebeband mache, das schließlich ganze vier Leute sehen. Meine Videos haben einen bis acht Likes und im Durchschnitt ungefähr 180 Aufrufe. Und jeder einzelne davon ist mir peinlich. 

Und da, auf einmal geht es los! Ein Video von mir knackt die 5.000-Aufrufe-Marke. 5.510, um genau zu sein. Ein Video, das ich als Antwort auf einen Clip von einer der erfolgreichsten TikTokerinnen Deutschlands gepostet habe. Wifiloo folgen 3,1 Millionen Accounts. Vermutlich haben einige ihrer Abonnenten zu meinem Video gefunden, genau weiß ich das aber nicht. 

„Kennt ihr das, wenn ihr Hosen kauft und die euch dann in der Taille viel zu weit sind?“, fragt Wifiloo in ihrem Video und zeigt sich dabei in einer viel zu großen Highwaist-Jeans. Meine Video-Antwort: „Ne. Ich bin froh, wenn ich Hosen überhaupt über den Hintern kriege.“ Meinen Part filme ich als Onetake, halbherzig, im Scheiß-Egal-Modus, während ich gerade von der Küche ins Bad laufe. Die Perspektive ist so unvorteilhaft, man kann in meine Nasenlöcher gucken. Editiert wird auch nichts, keine Untertitel, keine Filter, nichts. Trotzdem gucken sich die Leute den Quatsch an. Ich bekomme sogar Kommentare! „I feel u sis!“ Wenn ich mir Mühe gebe, landen meine Videos in der Versenkung, wenn mir alles egal ist, kriege ich Views. Wie schön, dass jetzt mehr als 5.000 Menschen mein Doppelkinn-Gesicht kennen.  

Warum fällt mir das so schwer?

Theoretisch habe ich jetzt also meinen kleinen Hit gelandet. Kann ich das reproduzieren? „Dranbleiben“, meinte doch Sbai. Also mache ich weiter Videos. Insgesamt 32 Stück. Und alle zu irgendwelchen Liedern und Sounds, die mir die TikTok-Mediathek vorschlägt. Ich lösche davon 22. Ich bewege meine Lippen zu einem Herzschmerzlied, wieder und wieder und wieder. Ich fühle mich dabei einfach albern. Statt mich auf einem digitalen Freizeitpark auszutoben, werde ich immer verkrampfter. Es ist mein Job, Dinge ins Internet zu schreiben, warum fällt es mir so wahnsinnig schwer, TikTok-Videos zu machen?

Vielleicht liegt es daran, dass mir irgendwie nicht ganz klar ist, für wen ich das mache,  Marketingfachleute würden vielleicht sagen, meine Audience ist nicht gut definiert. Auf Instagram poste ich vornehmlich für meine Freundinnen und Freunde, auf Twitter für meine Branche. Auf TikTok geht es irgendwie um alle. Dieses Gefühl, den schwer definierbaren Geschmack einer ganzen Generation treffen zu müssen, überfordert mich kolossal. Ich bin 26 und fühle mich alt. 

Ich entwickle eine richtige Bewunderung für alle, die auf TikTok ihre Videos posten. Denn die meisten Leute auf TikTok haben nicht nur super witzige Ideen, sondern auch unfassbare Videoskills. Wie schwer ist das bitte schön, einen coolen 15-Sekunden-Clip zu schneiden? Seit meinem ersten Wein-Versuch gelingt mir nichts mehr. Meine Ästhetik ist null smooth, nichts ergibt ein stimmiges Bild, alles sieht eher nach grobem Bierschinken als nach feiner Mortadella aus. Diese ganzen Filter, Funktionen, Schnitte, Voiceovers, Greenscreen-Spielchen – wieso können die das alle? Für meine Instastorys habe ich bisher doch immer nur auf einen runden Knopf gedrückt. 

Markus Appel ist Medienpsychologe. Ich frage ihn nach möglichen Gründen, warum es mir so unangenehm ist, mich auf TikTok zu präsentieren. Sein erster Satz: „Nennen Sie mir erst mal ihren TikTok-Namen, ich gucke mir das mal an.“ Ich fange vor Scham nervös an zu kichern. Da wären wir wieder. 

„Sie haben da schon den Look-and-feel von TikTok“, sagt Appel schließlich. „Aber das sind nicht Sie.“ Mein Problem sei, dass ich auf TikTok nicht mein Idealselbst präsentiere. Nicht die Version, in der ich mich selbst gerne sehe. Dann sei es logisch, dass mir TikTok unangenehm sei. Dass ich die App als passive Zuschauerin unterhaltsam finde, heißt deshalb noch lange nicht, dass ich bei TikTok auch so mir nichts dir nichts als Content Creatorin mitmischen kann. Entweder man fühlt TikTok oder man fühlt es eben nicht, nehme ich aus dem Gespräch mit. 

Nach knapp zwei Wochen höre ich auf, Videos bei TikTok zu posten. Ich hatte meinen 5.000-Klicks-Erfolg, wiederholen konnte ich den nicht. Wiederholen will ich den auch gar nicht mehr, denn Appel hat schon recht: Das bin nicht ich. TikTok lässt sich, anders als zum Beispiel Instagram, kaum als kleines Videotagebuch für Freundinnen und Bekannte verwenden – hier geht es darum, groß rauszukommen. Vielleicht geht das hier wirklich einfacher als auf anderen Plattformen. Sicher weiß ich jetzt: Es erfordert eine Menge Arbeit. Kreative Arbeit, technische Arbeit, Leidenschaft. Und die überlasse ich auf TikTok gerne anderen.

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